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HOCHSPANNUNG IM FEDERHAUS
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Damit sich die Mechanik einer Uhr in Bewegung setzt, muss sie mit Energie aufgeladen werden. Für das Spannen der Feder schwören die einen auf das Aufziehen von Hand und die liebevolle Interaktion mit der kleinen Maschine.
Kinder geraten ins Staunen, wenn nach dem Aufziehen das mechanische Spielzeug zum Leben erwacht oder aus einer Spieldose plötzlich Musik erklingt. Ähnlich ist es mit der mechanischen Uhr: Sobald sie mit Energie versorgt wird, beginnt ihr Herz zu schlagen: «In der Feder des Kalibers 59210 beispielsweise ist bei Vollaufzug die Energie von 1300 Millijoule gespeichert», weiss Thomas Gäumann, Leiter Manufakturwerk-Entwicklung bei der IWC in Schaffhausen. Das entspricht ungefähr der Energie, die benötigt wird, um eine Tafel Schokolade einen Meter und dreissig Zentimeter anzuheben. Diese Energie gelangt über das Aufziehen von Hand oder bei einem Automatikwerk über die Bewegungen einer Schwungmasse in den Zeitmesser. Beide Mechanismen sind technisch raffinierte, feinmechanische Konstruktionen.
Der heute verbreitete Kronenaufzug geht auf die Erfindung eines französischen Uhrmachers um 1850 zurück. Vorher war für das Spannen der Feder noch ein separater Schlüssel nötig. Beim Drehen der Krone übersetzt ein ausgeklügelter Mechanismus aus Wellen und Zahnrädern die Rotationen bis zur Federwelle und wickelt die Feder vom inneren Ende her auf. Damit die Uhr dabei nicht stillsteht, gibt das äussere Federende seine Kraft ununterbrochen an das Räderwerk ab. Nach etwa 70 Umdrehungen der Krone ist beim Handaufzug der maximale Spannungszustand erreicht. Dass die zugeführte Energie sofort wieder entweicht, verhindert ein kleiner Kegel am sogenannten Sperrrad.
Zusätzlich kompliziert wird die Mechanik durch die Integration des Zeigerstellsystems: Beim Herausziehen der Krone wechselt eine winzige Kupplung zwischen den beiden Funktionen. Die Schwierigkeiten in der Konstruktion liegen – wie so oft in der Welt der mechanischen Uhren – in den winzigen Abmessungen der ganzen Baugruppe. Die Lagerung und Führung der bewegten Teile auf dem in der Höhe sehr begrenzten Platz ist eine Präzisionsmeisterleistung.
Die Energie, die bei Vollaufzug in der Feder des Kalibers 59210 gespeichert ist, entspricht ungefähr der Energie, die benötigt wird, um eine Tafel Schokolade einen Meter und dreissig Zentimeter anzuheben
DIE GRÖSSE DES ENERGIESPEICHERS BESTIMMT DIE GANGRESERVE
Manufakturwerke mit Handaufzug haben bei der IWC eine lange Tradition. Mit der Kaliberfamilie 59000, die heute die Portofino und Portugieser Handaufzug Acht Tage antreibt, haben die Konstrukteure aus Schaffhausen ein wahres Kraftpaket geschaffen: «Das Ziel war, dass der Besitzer seine Uhr nur noch einmal pro Woche aufziehen muss», erklärt Gäumann. In der Praxis wird die Gangreserve von mehreren Faktoren beeinflusst.
Der Wichtigste ist die Kapazität des Energiespeichers: Je grösser das Federhaus und je länger die Feder, desto öfter dreht sich das Federhausrad und umso länger treibt es das Räderwerk an. Aber auch Komplikationen wie eine Chronographenfunktion brauchen Energie und mindern die Gangautonomie, wenn sie eingeschaltet werden. Hinzu kommen Wirkungsgradverluste durch die Kraftübertragung im Räderwerk und der Energieverbrauch der Hemmung.
Mit Ausnahme der Datums- und Gangreserveanzeige haben die Konstrukteure deshalb beim neuen Handaufzug-Kaliber bewusst auf Komplikationen verzichtet. Das gross dimensionierte Federhaus mit einem Durchmesser von 1,7 Zentimetern beherbergt eine 86 Zentimeter lange Feder, die sich in 14 Umdrehungen entspannt.
Zum Vergleich: In den Manufaktur-Chronographenwerken der IWC misst die Feder nur 50 Zentimeter und entspannt sich in 11 Umdrehungen. Die in den Kalibern 59000 gespeicherte Energie würde sogar für neun Tage reichen. Damit die abgegebene Kraft jedoch möglichst konstant und die Ganggenauigkeit hoch bleibt, wird das Werk nach exakt 192 Stunden – oder acht Tagen – automatisch gestoppt. Eine Anzeige informiert stets über den aktuellen Ladzustand.
DIE FEDERKRAFT AUS DER NATÜRLICHEN BEWEGUNG GEWINNEN
Darum muss sich der Automatikliebhaber nicht kümmern. Er vertraut auf die Vorzüge des Beinahe-Perpetuum-Mobiles am Handgelenk: «Beim automatischen Aufzug wandelt eine zentral gelagerte, halbmondförmige Schwungmasse die Bewegungen des Träger in Energie für die Feder um», beschreibt Gäumann das Funktionsprinzip dieser Aufzugvariante. Möglich macht es eine Kombination aus der Massenträgheit des Rotors und der Erdanziehung: Die schwere Schwungmasse strebt nach unten und gerät bei Beschleunigungen in Bewegung. Besonders effizient funktioniert das etwa, wenn der Arm beim Gehen am Körper entlangschwingt.
Bei der IWC ist der Automatikaufzug untrennbar mit Albert Pellaton verknüpft. Als Technischer Direktor forcierte er ab 1944 die Entwicklung einer Lösung, die heute noch viele Manufakturwerke aus Schaffhausen antreibt. Dabei musste der Tüftler einige Probleme lösen. Bestehende Systeme leiteten die Rotorbewegungen auf ein komplexes Wechselgetriebe um und nutzen meist nur eine Drehrichtung der Schwungmasse. Entsprechend hoch waren die Kraft- und Effizienzverluste. Der Clou an Pellatons Lösung: Er verwandelt die Drehung des Rotors in eine schwingende Bewegung, die sich viel effizienter für das Spannen der Feder nutzen lässt. Im Mittelpunkt seines Aufzugs befindet sich eine exzentrisch gelagerte Scheibe. Sie übersetzt die Rotationen der Schwungmasse in Hin- und Herbewegungen einer Wippe. Zwei versetzt an der Wippe befestigte Klinken übertragen die Energie auf das Aufzugsrad. Während eine das Rad zieht, gleitet die andere über die Verzahnung hinweg – und umgekehrt. Dieser Klinkenaufzug nutzt jede noch so kleine Bewegung des Rotors in beide Richtungen.
DER AUTOMATIKMECHANISMUS WIRD IM ALLTAG HART GEPRÜFT
Fast 2000 Umdrehungen der Schwungmasse braucht es beispielsweise beim grossen Automatikwerk der IWC bis zum Vollaufzug. Ein sportlicher Träger erreicht dies schon nach wenigen Stunden. Bei einem sorgfältigen Besitzer, der seine Uhr auch einmal ablegt, dauert es rund einen Tag. «Die Komplexität in der Konstruktion der Mechanik besteht darin, einen optimalen Kompromis zwischen allen Bewegungsprofilen zu finden», erklärt Gäumann. Automatikwerke aus Schaffhausen werden deshalb bereits in einem frühen Entwicklungsstadium von Testträgern mit unterschiedlichen Aktivitätsmustern auf Herz und Nieren geprüft. Der Automatikaufzug muss im Alltag hohe Belastungen aushalten. Die Schwungmasse wiegt zwar nur wenige Gramm. Bei schnellen Bewegungen wirken jedoch massive Beschleunigungskräfte von bis zum 1000-fachen der Erdbeschleunigung auf die Komponenten. Bei einigen Modellen werden starke Erschütterungen deshalb durch eine federnde Lagerung der Schwungmasse absorbiert.
Im Wesentlichen ist die Funktionsweise des Pellaton-Aufzugs seit über 60 Jahren unverändert geblieben. Das System wurde jedoch über die Jahre ständig perfektioniert. So werden heute beispielsweise praktisch verschleissfreie Klinken aus Keramik eingesetzt. Für das Chronographenkaliber 89000 wurde der gesamte Mechanismus einer gründlichen Überarbeitung unterzogen. Der daraus hervorgegangene Doppelklinken-Aufzug kommt mit weniger Bauteilen aus und ist durch die Verwendung von zwei Klinkenpaaren noch effizienter geworden.
Ob von Hand oder durch die eigene Bewegung: Ihren Zweck, den Energiespeicher der Uhr zu füllen und die feine Mechanik dadurch zum Leben zu erwecken, erfüllen beide Systeme absolut zuverlässig. An der Frage jedoch, welcher der beiden Mechanismen nun der schönere sei, daran werden sich die Geister der Liebhaber auch in hundert Jahren noch scheiden.